Verletzungen

Wie Google, mein Hausarzt und ein bisschen Alkohol dazu führen, dass ich mir besser vorkomme, als ich eigentlich bin. Oder aber: Ich gehe nicht oft aus, aber wenn ich es doch tue, prelle ich mir die Rippen.
 
Ich bin sehr stolz darauf, mir noch nie richtig wehgetan zu haben. Während vereinzelte Klassenkameraden so gut wie alle paar Monate mit gebrochenen Füßen, verstauchten Gelenken oder Verbrennungen in die Schule kamen, prahlte ich geradezu damit, ein klein wenig besser zu sein, da ich im Vergleich ein scheinbar behütetes Leben ohne jegliche Schlägereien und andere Eskapaden führte (mein Plan war es jedoch - sollte ich mal doch verdroschen werden - eine Win-Win-Situation daraus zu machen, indem ich den Übeltäter darum bat, mit seinen Schlägen besonders auf meine Nase einzugehen, da ich diesen und andere „Schönheitsfehler" dann gleich korrigieren lassen konnte, ohne furchtbar eitel zu wirken. So weit kam es nie). Als ich vor einigen Wochen also - nach einer kurzen Periode, in der ich fast Tag und Nacht mit meinem Kumpel Georg unterwegs war, da ich ihm bei einem gemeinsamen Projekt geholfen hatte, nebenbei jedoch auch noch für bevorstehende Prüfungen lernen musste - nicht mehr wie gewohnt durchatmen konnte und Schmerzen im Brustkorb hatte, war ich leicht besorgt.
 
Wie immer in solchen Situationen versuchte ich mich zu beruhigen, indem ich meine Symptome googlete und wie immer, wenn ich meine Symptome googlete, brach sofort noch größere Panik aus: Konnte man Dr. Google glauben, so hatte ich entweder ein Magengeschwür, H1N1 oder lag generell einfach bereits im Sterben. Eine kurze Zeit lang wurde ich deshalb äußerst melancholisch und verabschiedete mich von all meinen Freunden fortan mit den Worten „Es war nett, dich gekannt zu haben.", bevor ich mit einer herzzerreißenden Version von „Time To Say Goodbye" auf den Lippen in Richtung Horizont marschierte, bis ich beschloss, vielleicht doch lieber einen richtigen Arzt aufzusuchen.

Unter Missachtung aller Verkehrsregeln raste ich also zu meinem Hausarzt und erklärte ihm meine Symptome. Besorgt stellte er fest, dass ich wirklich extrem außer Atem sei (ich verheimlichte ihm, dass dies den Grund hatte, dass ich von meinem Auto zur Praxis gesprintet war. Wenn man stirbt lernt man jede Sekunde zu schätzen.) und sprach schließlich ein ernstes Wort mit mir. „Michael, ich glaube, dass du dich zu sehr unter Druck setzt und sich der Stress auf deinen Körper auswirkt." - „Es ist also psychosomatisch..." fachsimpelte ich, um unter Beweis zu stellen, dass ich nicht umsonst mein Abitur in Psychologie gemacht hatte. „Genau! Ich schlage vor, dass du einfach versuchst, dich zu entspannen und bis dahin ein paar Schmerzmittel nimmst!", lautete sein Ratschlag (welcher sich, nebenbei bemerkt, wie ein typischer Sonntagabend im Hause Buchinger anhört). Ich konnte mich gerade noch davon abhalten, ihm um den Hals zu fallen und zu fragen, ob ich ihn „Papa" nennen durfte - mich ein paar Tage lang zu entspannen kam mir gerade recht.
 
Wenngleich Krankheiten nie sonderlich toll sind, muss ich zugeben, dass sich meine „psychosomatische Erkrankung" irrsinnig glamourös anhörte. Ich kam mir vor wie eine dramatische Diva aus einem Film der 30er-Jahre, die einen großen Hut und Schleier trägt, während sie unter Tränen „Ich kann so nicht mehr leben!" schreit, bevor sie ein mit Gin gefülltes Glas gegen die Wand wirft und dann in Ohnmacht fällt. Gerne befolgte ich den Rat meines Arztes: Ich schaltete mein Handy ab (eine Geste, die mir in jenem Moment essentiell erschien, doch völlig überflüssig war, da mich ohnehin niemand erreichen wollte), legte meine Lernutensilien beiseite und setzte mich einfach für ein paar Stunden am Stück in den Garten, um ein bisschen Ruhe zu tanken. Der Schmerz in meiner Brust ließ allmählich nach und natürlich redete ich mir ein, dass dieser Effekt auf die Entspannung, und nicht darauf, dass ich Schmerzmittel wie Tic-Tac zu mir nahm, zurückzuführen war.
 
Eine Woche später fühlte ich mich auch ohne Medizin schon wieder gesund; sowohl die Brustschmerzen, als auch meine Atemprobleme waren nach drei Wochen, die ich großteils damit verbracht hatte, mein Testament zu schreiben und kluge Sätze von mir zu geben, (weil sterbende Menschen nunmal extrem weise sind), vergangen. Erleichtert traf ich mich mit Georg zum Brunch bei unserem Lieblingsitaliener, als er mich fragte, warum ich mich denn die letzten paar Wochen zuhause verschanzt hätte. „Weißt du ich hatte sehr viel Stress. Anfang des Monats hat sich der seelische Druck auf meinen Körper ausgewirkt. Ich hatte wirklich schlimme Schmerzen auf der linken Seite meines Brustkorbes. Mein Arzt sagte es wäre psychosomatisch!", erklärte ich und gratulierte mir selbst, da es mir bei meiner Erzählung der schrecklichen Ereignisse gelungen war, äußerst blasiert zu wirken und ich zudem wieder das Wort „psychosomatisch" eingebaut hatte. Georg sah mich kritisch an. „Du glaubst nicht, dass es damit zu tun hat, dass du betrunken die Treppe runtergefallen bist?". 
 
Um ein Haar hätte ich mich vor Schock an meinem Risotto verschluckt (man merkt: ich lebe gefährlich!). Nachdem ich mich wieder gefangen hatte, bat ich meinen Freund, seine Aussage doch bitte genauer zu erläutern. Am letzten der Tage, an denen Georg und ich miteinander unterwegs waren, waren wir auf einer Party, um die Vollendung unseres gemeinsamen Projekts zu feiern. Hier hätte ich mich angeblich - und das halte ich für ein Gerücht - über die Maße betrunken, sei kurz vorm Heimgehen eine Treppe heruntergestürzt und hätte mir danach schmerzerfüllt an die Brust gegriffen, bevor ich endgültig nach Hause verschwand (Ha! Alles Absicht! Ich weiß nunmal, wie man einen anständigen Abgang hinlegt). Ich musst eingestehen, dass sich dieser Tathergang äußerst plausibel anhörte und konnte mich plötzlich auch wieder dunkel daran erinnern. „Ich litt also all die Zeit lang nicht an einer glamourösen, psychosomatischen Erkrankung?" hakte ich nach. „Nein Michael.", konterte Georg. „Du bist Treppen runtergestürzt." Auch gut.
 
Geteiltes Leid ist halbes Leid, liebe Leser: Habt ihr euch schon des Öfteren gröbere Verletzungen zugezogen? Vielleicht schafft ihr es ja, dass ich mir weniger blöd vorkomme (glaube nicht).

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen