Usedom

Für eine Woche Pensionist: Michael begibt sich mit seiner Großmutter auf Seniorenurlaub und genießt dabei nicht nur frischen Fisch, sondern konfrontiert auch seine innere Angst vorm Altwerden.
 
Als ich im Alter von 18 Jahren gerade nach Wien gezogen war, machte ich es mir zum Brauch, jeden Mittwochabend einen nahegelegenen Supermarkt aufzusuchen, um Rotwein zu kaufen. Bei meinem ersten Besuch musterte mich die Verkäuferin kritisch: „Bist du denn schon 16?" fragte sie, während sie den Wein in Beschlag nahm. Um ein Haar hätte ich sie geküsst und ihr „I Will Always Love You" gesungen - nichts liebe ich mehr, als für zu jung gehalten zu werden. Letztens jedoch - fast neun Monate später - suchte ich der alten Zeiten Willen erneut jenen Supermarkt auf, um mir mal wieder einen billigen Vino zu holen. „Wir haben jetzt eine Vorteilskarte - du kannst die Anmeldung ausfüllen und würdest dann gleich Rabatt auf den Wein bekommen!", sagte ein junger Verkäufer, als ich gerade zahlen wollte. Günstiger Rotwein NOCH GÜNSTIGER? Ich riss ihm das Formular aus der Hand und begann hastig, es auszufüllen. Schließlich musterte der Verkäufer meine Daten. „Du bist erst 19? Ich hätte dich auf 24 geschätzt."
 
Ich glaube nicht an Gewalt, aber in jenem Moment konnte ich mich gerade noch davon abhalten, dem Kassa-Jungen mit der Faust ins Gesicht zu schlagen und dann nach seinem Vorgesetzten zu verlangen, um diesem ebenfalls mit der Faust ins Gesicht zu schlagen. 24? Ich war doch vor ein paar Monaten erst 16! Wütend schmiss ich ein paar Münzen auf die Theke und verließ den Laden. Der Grund für meinen Gefühlsausbruch ist dieser: Ich habe eine irrationale Angst vor dem Altwerden im allgemeinen und dem Tod im speziellen. Nein, 24 ist überhaupt nicht alt, doch es genügt schon, mich ein paar Jahre älter zu schätzen, um mich daran zu erinnern, dass mein Leben schließlich doch begrenzt ist und ich eines Tages sterben werde.
 
Vielleicht hat die Aggression bezüglich meines Alters auch damit zu tun, dass ich mich ohnehin bereits wie eine alte Person verhalte: Auf Partys entschuldige ich meist schon gegen 2 Uhr morgens auf die Toilette, wusle dann aber heimlich in die nächste Straßenbahn, um zuhause noch die Wiederholung von „Zwei bei Kallwas" zu erwischen. Ich liebe Mittagsschläfchen, habe eine Vorliebe für Dörrfrüchte und versuche zudem oft, beim Shoppen mit Freunden das Thema „Euro ist Teuro" anzusteuern, indem ich wahllos Kleiderstücke in die Hand nehme, den Preis missbilligend mustere und dann „Um das Geld hätte ich seinerzeit ZWANZIG davon kaufen können!" durch den gesamten Laden rufe.
 
Als mich meine Großmutter also unlängst dazu einlud, sie gemeinsam mit meiner Mutter im Rahmen eines Pensionisten-Urlaubs auf die Insel Usedom zu begleiten, musste ich nicht lange nachdenken: Usedom ist eine ruhige Insel in Norddeutschland, auf der zu Kaiserzeiten Sommerfrische gehalten wurde. Heute ist die sie vor allem für ihr hohes Bernsteinaufkommen, frische Fischspezialitäten und seit den 1990er Jahren als beliebtes Reiseziel für Rentner bekannt. Meine Großmutter war hier während des 2. Weltkrieges auf Kinderlandverschickung - mir wurde erklärt, dass Kinder zu Kriegszeiten oftmals für ein paar Wochen auf „Urlaub" geschickt wurden, um sie womöglich vor Unheil zu bewahren, während zuhause düstere Zeiten herrschten. Meine Oma äußerte also den Wunsch, gemeinsam mit meiner Mutter und mir den Ort ihrer Kindheitserinnerungen mehrere Jahrzehnte später erneut zu bereisen. Diese Geschichte finde ich äußerst rührend, wenngleich als Argument überflüssig, da ich bereits bei den Worten „frische Fischspezialitäten" angefangen hatte, meinen Koffer zu packen.
 
Sonnige Tage im Usedomer Seniorenhotel werden damit verbracht, frischen Fisch zu essen und in Strandkörben zu lümmeln, während man seichte Romane liest - ich habe mir sogar angewöhnt, vor dem Umblättern an meinem Finger zu lecken! An Regentagen wird lange geschlafen, ein Museum besucht und abends auch gerne mal ein heißes Bad genommen („Zimmerservice? Ja, ich schon wieder. Bringen Sie mir doch bitte ein paar Dörrfrüchte ins Badezimmer. Danke!"). Das Beste: Selbst, wenn man sich mal dazu entschließen sollte, einen gesamten Nachmittag lang wie ein totes Tier am Pool zu liegen und laut zu schnarchen, wirkt man im Vergleich zu den anderen Gästen meist dennoch wie ein „zackiges Kerlchen". Alles war wunderbar. Doch spätestens, als ich an dem Defibrillator in der Lobby unseres Hotels vorbeiging, kam es mir wieder in den Sinn: „Michael, du bist umringt von Leuten, die jeden Moment sterben könnten. Noch mögen sie lachen, weil sie beim Bingo gewonnen haben, aber bald könnten sie sterben."

Ich werde an dieser Stelle nicht so tun, als wäre unser Kurztrip nach Usedom ein lebensverändernder Ausflug à la „Eat, Pray, Love" gewesen (der in diesem Fall wohl eher „Eat, Sleep, Eat" heißen würde). Dennoch kam es zu einem kleinen Ereignis, das mich zum Nachdenken brachte: Es war 10 Uhr Vormittags und wir saßen gerade in einer der typischen Fisch-Buden, um uns ein Getränk zu holen. Meine Mutter und ich bestelltenbeide eine Cola, als meine Oma sich zu Wort meldete: „Ein Bier, bitte". Mama und ich tauschten skeptische Blicke aus - ein Bier? Um 10 Uhr Vormittags? In meiner Familie trinken wir ja alle recht gerne, aber versuchen meist, Alkoholkonsum auf den Abend zu beschränken, um eventuelle Bewusstlosigkeit elegant als „Schlaf" tarnen zu können. Meine Großmutter rechtfertigte sich: „Wisst ihr, in meinem Alter bestelle ich mir ein Bier, wenn ich Lust darauf habe, anstatt auf irgendeine Moment in der Zukunft zu warten, den ich vielleicht nicht mal erlebe!".
 
Obwohl ich mir ziemlich sicher bin, dass meine Oma mit dieser Aussage nicht mehr meinte als „Ich will jetzt endlich mein Bier!", lernte ich dennoch meine Lektion daraus: Meine 80- jährige Großmutter genoss es, um 10 Uhr vormittags auf Usedom ein Bier zu trinken, solange sie noch konnte, und schien sich dabei von ihrem Alter oder aber Todesangst nicht wirklich den Spaß nehmen zu lassen. Wieso also machte ich mir bereits mit 19 Jahren Sorgen darüber, dass ich eines Tages sterben würde, anstatt es ihr gleich zu tun und einfach den jetzigen Moment zu genießen? Ja, wieso eigentlich nicht? Ich drehte mich zum Kellner um: „Ich hätte doch gerne ein Bier, bitte!".
 
Genug von mir, liebe Leser: Wohin treibt es euch am liebsten auf Urlaub? (Anbei außerdem ein Bild von mir beim Verzehr eines Aals. Wer Sympathiepunkte sammeln will, kann mir vergewissern, dass ich darauf äußert jugendlich aussehe!)


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