Travestie

Als ich vor ein paar Wochen in einem babyblauen Kleid durch die Straßen meines Heimatortes ging, schwante mir Böses. Da ich bereits in den vergangenen Jahren aufgrund meiner unkonventionellen Kleidung stets komisch angestarrt wurde, machte ich mich diesmal gleich auf hasserfüllte Banden, die mich mit Fackeln und Heugabeln über die Grenze nach Ungarn jagen würden, gefasst.
 
Es fasziniert mich immer mehr, wie viel Wert in unserer Gesellschaft auf Kleidung im Allgemeinen und Geschlechterrollen im Speziellen gelegt wird. In den unerträglich heißen Sommern meiner Jugend habe ich gerne mal das Haus in Oberteilen verlassen, die tiefere Einblicke gaben, als man es vielleicht von herkömmlichen Herren-Shirts gewohnt ist. Großer Tumult im Kleinort war oftmals die Folge. „Dieser verrückte Michael schon wieder!", würden die Leute sagen, während sie die Hände über dem Kopf zusammenschlugen. „Weiß er denn nicht, wie sich ein Mann zu kleiden hat?". Das amüsierte mich stets, da sich beispielsweise niemand aufregte, wenn ich mal - selten aber doch - mit freiem Oberkörper unterwegs war. Nackte Haut war egal - das unerhörte Stück Stoff war das Problem! Heute erinnert mich das ein bisschen an Simone de Beauvoir, die einst behauptete, man würde nicht als Frau geboren, sondern durch gesellschaftliche Konventionen, nach denen man sich zu richten hatte, zu einer gemacht. Aber trifft dies auch auf Männer zu? Hatte ich mich in Hemd, Krawatte und Aktentasche zu kleiden, um ein Mann zu werden?
 
Als wir vor einem halben Jahrzehnt im Deutschunterricht dazu genötigt wurden, Gottfried Kellers Novelle „Kleider machen Leute" zu lesen, hätte ich, als faulster aller Schüler, genervter nicht sein können. Allerdings fand ich bereits nach den ersten paar Seiten großen Gefallen an jener Lektüre, die von einem armen Schneidergesellen handelte, der sich stets gut kleidet und daher in einer fremden Stadt für einen reichen Grafen gehalten wird. Hier wurde mir verdeutlicht, was ich ohnehin schon zu gut wusste: Kleidung spielt beim ersten Eindruck eine wichtige Rolle und beeinflusst, wie die Menschen über einen urteilen. Es ist aber nicht so, als würde ich mich „alternativ" kleiden, weil ich unbedingt als „verrückter Typ, der vermutlich gerade mit dem Wanderzirkus in der Stadt ist" rüberkommen möchte. Allerdings finde ich die Mainstream-Männermode der letzten Jahre nicht sonderlich berauschend und viel zu konservativ, weswegen ich immer öfter Flohmärkte oder ausgefallene Online-Läden aufsuche. Diese Experimentierfreudigkeit ist vermutlich genetisch bedingt und kommt von meiner Mutter, die in unserem Ort dafür berüchtigt ist, in einem ihrer fieseren Momente ein konservatives Damenmodengeschäftmit den Worten „Ich komme wieder, wenn ich was für meine Beerdigung brauche!" verlassen zu haben.
 
Doch eines werde ich nie verstehen: Wenn Frauen den Boyfriend-Look tragen dürfen und dadurch sogar „tough" und „cool" wirken, sollten Männer doch genauso gut ab und an engere Hosen und tief ausgeschnittene Shirts tragen dürfen, den „Girlfriend-Look" eben. Aber nein, das ist für einen Mann scheinbar degradierend. Meine gesamten Teenagerjahre lang wurde mir deshalb ans Herz gelegt, ich solle doch bitte mal wenigstens ein bisschen mit dem Strom schwimmen und mich männlicher kleiden. Aber den Teufel tat ich! Stattdessen zog ich nach Wien, wo Männer samstags auch gerne mal Dirndl tragen und Obdachlose am frühen Morgen französische Monologe über „Monsieur Lucifer" halten, in ihren „Denkpausen" jedoch zwischendurch auf die Straße kotzen. Hier, unter all diesen Exzentrikern, fühlte ich mich direkt „normal". Umso belustigender klang es daher, als mich eine Freundin fragte, ob ich ihr nicht bei einem Kunstprojekt helfen könne. Teil meiner Aufgabe: Im Kleid diverse „Hotspots" meines Heimatort besuchen und mich dabei fotografieren lassen. „Aber warum soll gerade Michael das machen?", fragt ihr euch vielleicht. Nun, liebe Leser: Alle, die mich besser kennen, wissen - spätestens seit ich mich damals auf einer meiner legendäreren Partys als „Mitternachtseinlage" entblößt habe - dass ich kein Schamgefühl habe und daher für solche Dinge zu haben bin. Das Angebot klang außerdem viel zu verlockend, um es nicht sofort anzunehmen. All die Jahre lang war mein Kleidungsstil (enge Jeans, tiefe Shirts) „zu feminin" gewesen. Wie würde man also reagieren, wenn ich plötzlich im Kleid auftauchte?
 
In einem blauen Kleid, einem blauen Haarreifen und blauen Strümpfen (unter denen meine starke Beinbehaarung dennoch hervor blitzte) begab ich mich also auf die Straßen meines Heimatortes und ging diversen Alltagsaktivitäten nach. Die Reaktionen, die verschiedene Passanten auf mein Aussehen hatten, überraschten mich umso mehr: Klar, für ein paar Menschen war ich eine wandelnde Attraktion, eine Art Clown, der lustig anzusehen war. Andere jedoch taten einfach so, als würden sie mich gar nicht bemerkten und scheuchten ihre Kinder in die andere Richtung, weil dieser merkwürdige YouTuber schon wieder sein Unwesen trieb. Am Verblüffendsten jedoch waren für mich jene Menschen die nicht mal mit der Wimper zuckten, so taten, als würde ihnen mein Kostüm gar nicht auffallen und mich vollkommen normal behandelten. Dieses Phänomen konnte ich mir nur durch eine Reizüberflutung erklären. „Oh, sieh mal einer an! Ein Mädchen in einem schönen Kleid. Aber Moment...Beinhaare? Ist das etwa doch ein Junge? Oder gar eine von diesen Lesben? Am Besten ich tue so, als wäre nichts und behandle sie ganz normal." Entweder das, oder diesen Menschen war es tatsächlich gelungen, nicht anhand meiner Kleidung über mich zu urteilen und sich stattdessen auf die Person, die dahinter steckt, zu konzentrieren.
 
Nachdem ich euch, liebe Leser, nun schon lange genug auf die Folter gespannt habe, möchte ich euch dieses Bild von mir im Kleid natürlich nicht länger vorenthalten:

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