Ticks

Seit ich 10 Jahre alt war, kaute ich an meinen Fingernägeln, doch eine provokante Leuchtreklame am Bahnhof brachte mich dazu, mir dieses Verhalten abzugewöhnen und über die andern merkwürdigen Ticks aus meiner Vergangenheit zu reflektieren.
 
Unlängst saß ich im Bus, als mich die Frau neben mir völlig entgeistert ansah. Ohne auch nur ein einziges Mal zu blinzeln starrte sie mir ins Gesicht, als hätte ich sie gerade in ihre Brust gebissen, dabei saß ich doch nur friedlich auf meinem Platz und blickte aus dem Fenster. Zuerst vermutete ich deshalb, dass sie einfach völlig überwältigt von der puren Geschmeidigkeit meines wallenden Haars war und mich sicher gleich fragen würde, ob sie „ganz kurz durchwuscheln" durfte. Doch plötzlich senkte sich ihr Blick auf meine Hand. Mit Entsetzten musste ich feststellen, dass eine relativ große Menge an Blut aus meinem Daumen kam und es mir zudem gelungen war, den Großteil meines weißen T-Shirts rot zu färben (ich hätte doch die U-Bahn nehmen sollen. Dort kann man sogar pfeifend eine Waffe putzen und dennoch als eine der normaleren Personen gelten). Ohne es wirklich zu merken, hatte ich in den vergangen 5 Minuten so intensiv an meinen Nägeln gekaut, dass ich nun aussah, als nützte ich den Bus als Fluchtgefährt von einem Blutbad, das ich wenige Minuten zuvor angerichtet hatte. Obwohl ich es nicht gerne zugebene (und meine Mutter sich furchtbar darüber ärgert): Schon seit ich 10 Jahre alt war, kaue ich an meinen Fingernägeln.
 
Vor ein paar Wochen schließlich ging ich gerade am Bahnhof meiner ländlichen Heimatstadt spazieren, als ich an einem Nagelstudio vorbeikam. Kaum zu übersehen war das große Angebot, welches in der Auslage angepriesen wurde: „Jetzt neu: Nagelbeißertherapie! 160€" strahlte mir die Leuchtreklame entgegen. Ich war entsetzt. „160 Euro?!?" schrie mit meiner geballten Faust drohend zum Himmel gerichtet und zwar so laut, dass sämtliche Tauben in meinem Umkreis aufgebracht davonflatterten. Da ich nichts mehr liebe, als Dinge, die eigentlich viel Geld kosten, gratis zu bekommen (nächste Woche erzähle ich euch, wie ich Madonna-Karten ergaunert habe!), beschloss ich in eben jenem Moment, ein für alle Mal mit meiner lästigen Angewohnheit aufzuhören und stattdessen 160€ in etwas Sinnvolles, wie zum Beispiel ein „Golden Girls"-Sammler- Boxset, zu investieren. Dies ist nun schon einige Wochen her und obwohl meine Freunde nun oft Sätze wie „Darf ich vielleicht nur ganz kurz an deinen Nägeln kauen?" zu hören bekam, habe ich zum ersten Mal seit Jahren halbwegs präsentable Finger (meine Mutter schlägt übrigens vor Freude noch immer ein Rad nach dem anderen). Nägelkauen war jedoch nicht der erste lästige Tick, den ich überwunden hatte.
 
Bevor ich zum Chaoten wurde, der sich freut, wenn er Pommes in der Sofaritze findet, gab es einige Jahre, in denen ich tatsächlich ziemlich neurotisch war. Zu Beginn meiner Zeit am Gymnasium hatte ich es mir angewöhnt, mir bei Nervosität und Stress Haare auszureißen - nicht auf eine kranke „Ich reiße mir einen Büschel Haare aus und stricke daraus einen Schal für meinen Schwarm!" Art und Weise. Nein - immer, wenn ich mich ein wenig angespannt fühlte, riss ich mir zum Beispiel ein Beinhaar aus und fand das völlig normal (für alle Scrabble-Liebhaber: Dieser Tick nennt sich Trichotillomanie und garantiert euch dreifachen Buchstabenwert). Man möchte meinen, es wäre mein Ziel gewesen, dass jemand „ewige Jungfrau" an meinen Spind schreibt, denn wenige Monate später entwickelte ich auch noch einen merkwürdigen Symmetrie-Tick, bei dem ich, wenn ich mir zum Beispiel mit der rechten Hand ein Haar ausriss, das selbe auch noch mit der linken Hand tun musste (ich weiß es klingt komisch, aber diese Geschichte ist definitiv nicht an den Haaren herbeigezogen! *High-Five*).
 
Ich war zu diesem Zeitpunkt ohne Zweifel das coolste Kind am ganzen Block: Während andere Gleichaltrige an der Straßenecke rauchten, Alkohol tranken oder in Schlägereien verwickelt waren, stolzierte ich an ihnen vorbei, stieg dabei nicht auf die Ritzen des Bodenpflasters und riss mir mit beiden Händen ein paar Haare aus, während ich gelegentlich auch mit mir selbst sprach. Es war ja auch nicht so, als hätten mir all diese sonderbaren Rituale großen Spaß bereitet, aber wie das bei Ticks nunmal so ist, schien mir die Möglichkeit, meinen Drängen einfach nicht nachzugehen, schier unvorstellbar und viel schlimmer, als mir einfach schnell ein Haar auszureißen. Aus eben diesem Grund kam ich mir lange Zeit wie der größte Freak auf Erden vor. Sobald ich jedoch die Pubertät erreicht hatte und um einiges selbstsicherer geworden war, sollte zum Glück auch ein Großteil meiner nervösen Ticks sein Ende finden: Einzig und allein das Nägelkauen blieb, welches im Vergleich zur meiner leichten Trichotillomanie und dem Symmetrie-Zwang definitiv das geringere Übel war.

Jahre später sollte ich herausfinden, dass mein damaliges Verhalten wohl gar nicht so merkwürdig war: Ich würde sogar behaupten, dass ein Drittel meines heutigen Freundeskreises mit eher ungewöhnlichen Zwängen und auffälligen Ticks lebt. Ein Freund zum Beispiel kann nicht die Treppen nehmen, ohne jede einzelne Stufe zu zählen. Einmalbegrüßte er mich eine Viertelstunde zu spät, dafür aber mit den Worten „Dein Treppenhaus hat 204 Stufen!" vor meiner Wohnungstür, bevor ich ihn darum bat, das nächste mal doch bitte den Aufzug zu nehmen. Eine meiner besten Freundinnen dagegen nimmt aus Hygienegründen in Restaurants immer heimlich ihr eigenes Besteck mit. Anstatt meine Mitmenschen aufgrund dieser eher sonderbaren Eigenheiten zu beurteilen, zeige ich Verständnis und reiße mir aus Solidarität auch mal ein paar Haare aus, denn ich weiß nur zu gut, wie es sich anfühlt, mit solchen Ticks zu leben.
 
Aber jetzt genug von mir, liebe Leser: Habt ihr denn interessante Ticks und Fimmel? Bitte erzählt mir davon, damit ich mir ein klein wenig normaler vorkomme.

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