Progressiv

„Sei doch amol a bissl progressiv!" lautet das neue Motto der VANGARDIST- Kampagne, mit dem das Magazin seine Leser dazu aufruft, ihr Leben entschlossener und individueller zu gestalten. Doch was bedeutet „progressiv sein" eigentlich? Ich werde versuchen, dies anhand einer kleinen Reihe an - wie sollte es anders sein - peinlichen Anekdoten zu verdeutlichen.
 
Es war an einem der ersten Sonnentage in Wien, als ich mit einer Freundin zur Mittagszeit im Gastgarten eines neu eröffneten Restaurants saß und unter dem Motto „Irgendwo auf der Welt ist es bestimmt 17 Uhr" bereits meinen ersten Cocktail des Tages konsumierte. Ich war gerade dabei, den Erzählungen meiner Freundin zu lauschen, als ein Kellner auf uns zukam. „Darf ich euch Ladies denn noch irgendetwas bringen?", fragte er und kam sich dabei wohl supercharmant vor, weil er ein exotisches Fremdwort verwendet hatte. „Ich bin keine Lady!" protestierte ich, in der leisen Hoffnung, für den Fauxpas des Kellners einen weiteren Drink „aufs Haus" zu bekommen. Da ich langes Haar trage war es definitiv nicht das erste Mal, dass diese Verwechslung vorgekommen war. Mental schrieb ich unseren Kellner daher auf die Liste an Menschen, die sich in den vergangenen Jahren in meinem Geschlecht geirrt hatten. Vielleicht bekomme ich ja, wenn genug Personen auf dieser Liste stehen, als Entschädigung einen Gratis-Toaster!
 
Ein anderes Mal war ich mit meiner Mutter im Kino, als ich vor Beginn der Vorstellung noch einmal schnell die Toilette aufsuchte. Gerade, als ich dabei war, mir die Hände zu waschen, kam ein Mann bei der Tür herein und gab einen empörten Laut von sich. „Sagen Sie mal, gnädiges Fräulein, Sie sind aber in der falschen Toilette!", ließ er mich entsetzt wissen. Ich muss dazusagen, dass ich solche Situationen irrsinnig witzig finde und immer laut zu lachen anfange. Dennoch war ich in diesem Fall leicht verärgert. Ich will ja gar nicht behaupten, dass ich es beleidigend finde, für eine Frau (bzw. eine Lady) gehalten zu werden, diesmal hielt mich der Herr jedoch nicht nur für eine Frau, sondern obendrein auch noch für eine komplette Vollidiotin. Seiner Meinung nach war ich nämlich fröhlich durch eine Tür gegangen, auf der in Großbuchstaben „HERREN" steht und hatte mir, als ich an den Pissoirs vorbeiging, wahrscheinlich gedacht: „A-HA! Das ist sicher die Damentoilette!".
 
Es ist fast so, als wäre ich eine unbegreifliche optische Täuschung, wie diese junge Frau, die, wenn man lang genug hinsieht, auch wie eine alte Dame aussehen kann: Ich habe eine flache Brust und halbwegs markante Gesichtszüge. Ein Mann also. Aber dieses langeHaar! Und die tiefen Ausschnitte! Ist das doch eine Frau? Wie kann das bloß sein? Hilfe, wie soll man über diese Person urteilen, wenn man nichtmal ihr Geschlecht erkennen kann? Ich finde es ziemlich belustigend, dass viele Leute in unserer Gesellschaft jeden anhand von äußerlichen Merkmalen sofort in Schubladen stecken müssen. Es ist ja nicht so, als würde ich im Kleid herumlaufen, aber da ich längeres Haar habe, gerne Mango Daiquiris trinke und den Werkzeugkasten, den mir mein Vater geschenkt hat, mit Erde aufgefüllt und Blumen darin angepflanzt habe, muss ich ja automatisch eine Lady sein.
 
Doch nicht immer fand ich solche Situationen witzig und besonders, als ich noch jünger war, machten sie mir sehr zu schaffen, wenn meine Mutter von älteren Personen darauf angesprochen wurde, welch entzückende Tochter sie doch habe. Ich vermute sogar, dass in dem kleinen Dorf, aus dem ich komme, noch bis zum heutigen Tage auf Bürgerversammlungen angeregt darüber diskutiert wird, ob ich nun männlich oder weiblich bin. In meinen jungen Jahren versuchte ich daher (auch wenn ich nicht stolz darauf bin), mich anzupassen und durch eine schlankere Figur und einen kürzeren Haarschnitt männlicher zu wirken. „Frau Buchinger, Ihre Tochter hat aber schön abgenommen! Und dieser Kurzhaarschnitt steht ihr gut!", würde meine Mutter dann zu hören bekommen. Meine Bemühungen waren zwecklos.
 
Es war ungefähr zu diesem Zeitpunkt, als ich aufhörte, mir sonderlich viel aus den Konventionen und der Meinung unserer Gesellschaft zu machen und mehr darauf zu achten, was mich im Leben glücklich machte - mein Haarschnitt markierte dabei nur die Spitze des Eisbergs. Soll der Kellner eben glauben, ich sei eine Lady! Es ist ja nicht so, als müsse ich mich nach seinen Vorstellungen eines „typischen Mannes" richten. Solange er mich weiterhin mit Cocktails versorgt, geht es mir gut. Dieses Lebensgefühl spiegelt sich meiner Meinung nach auch in der neuen VANGARDIST-Kampagne wieder: „Progressiv sein" bedeutet, das Leben so zu leben, wie man will. Zu lieben, wen man will, zu genießen, zu bewundern und zu verachten, was man will. Ein progressiver Lebensstil ist jenseits von Kategorisierungen, und beschreibt eine individuelle Haltung, die nach vorne gerichtet ist. Der VANGARDIST ist das Männer-Magazin, das dieser progressiven Haltung Ausdruck verleiht. Und wer weiß, wenn mich in Zukunft noch ein paar Leute für eine Frau halten, bekomme ich vielleicht endlich meinen Gratis-Toaster.
 
Ich hoffe, es ist mir gelungen, euch den Begriff „progressiv" ein wenig näher zu bringen. Führt ihr eurer Meinung nach einen progressiven Lebensstil? Inwiefern? Für alle, die noch nicht genug von Lesen haben, hier der Link zu der neuen VANGARDIST Ausgabe, garantiert progressiv! ›› ISSUE 24

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