Paris

Weil er einen tiefen, unbegründeten Hass für Silvester empfindet, beschließt Michael kurzerhand, den Jahreswechsel mit mürrischen Franzosen und Unmengen an Backwaren zu verbringen.

Ich kann gar nicht anfangen zu beschreiben, wie sehr ich Silvester hasse. Während dieser Tag den langweiligeren Menschen der Welt als Freipass dient, einmal im Jahr mal so richtig „crazy" sein zu dürfen (langweilige Leute lieben dieses Wort!) verläuft mein Silvester fast immer gleich: Deprimiert, keinen mir von der Filmindustrie als notwendig vermittelten Mitternachts-Kuss bekommen zu haben, betrinke ich mich meist im großen Stil und mache dann gegen 4 Uhr morgens mit einer alten Flamme auf der Herrentoilette herum, bevor ich mich im Taxi nach Hause (auf welches ich, nebenbei bemerkt, eine Stunde lang warten muss) in den Ärmel meines eigenen Mantels übergebe, um etwaigen Reinigungskosten vorzubeugen. Da es sich dabei wohl kaum um den besten und progressivsten (BÄM!) Weg handelt, ein neues Jahr einzuläuten, versuche seit mehreren Jahren, Silvester so gut wie möglich zu ignorieren (und schicke gerne mal Hass-Post an die gesamte Besetzung des Filmes „Happy New Year"). Als meine Eltern mir dieses Jahr also vorschlugen, zum Jahreswechsel nach Paris zu fliegen, war ich sofort begeistert. Denn wo könnte ich besser Silvester hassen, als bei den Franzosen, die ohnehin alles und jeden hassen?

Ich kann nicht wirklich mit einer triftigen Erklärung für meine Frankophilie dienen. Wie kann man eine Stadt an mürrischen, aber zugleich herzlichen Menschen, die es okay finden, um 9 Uhr Morgens ein Glas Weißwein zu trinken, nicht immer wieder besuchen wollen?Besonders in Erinnerung bleibt mir der Schulausflug in die französische Hauptstadt, auf dem ich von Verstopfung geplagt war. Mit gebrochenem Französisch wagte ich mich in die nächste Apotheke und bestellte ein Abführmittel. „Nimm ruhig gleich zwei davon!", rief mir der Apotheker, auf dessen Namensschild wahrscheinlich „Satan" stand, hinterher. Gesagt, getan! In jenem Urlaub entstanden unzählige Fotos, auf denen ich mit schmerzgeplagter Miene vor dem Eiffelturm stehe und mir panisch an den Bauch greife. Ein anderes Mal bin ich in der Blüte meiner Jugend völlig alleine nach Paris geflogen, um die Stadt der Liebe auf eigene Faust zu erkunden (das könnte sehr gut die traurigste Aussage aller Zeiten sein). An meinem letzten Tag habe ich einem Obdachlosen dabei geholfen, den Weg zur nächsten U-Bahn-Station zu finden. Als wir schließlich gemeinsam bei der Metro ankamen, zeigte der Mann seine Dankbarkeit, indem er mich enthusiastisch küsste. Seien es nun Apotheker, die mich töten wollen oder romantische Obdachlose: Paris ist jedes Mal erneut ein großer Spaß.

Und auch bei meiner Silvester-Reise der vergangenen Woche wusste die Stadt erneut zu begeistern: Obwohl meine Eltern und ich unsere Tage fast nur mit ewig langen Spaziergängen bei angenehmem Klima und vereinzelten Zwischenstopps in Bäckereien verbrachten, fühlte ich mich am verhassten 31. Dezember dennoch viel wohler, als es in den Jahren zuvor der Fall gewesen war. Ich verspürte nicht einmal im geringsten das Verlangen, einen Hundewelpen zu treten (und selbst wenn: Wo, wenn nicht in Paris, wäre das sozial akzeptabel?). Und weil es mir schon so gut ging, beschloss ich schließlich, meine Stärke zu testen und auf Facebook nachzusehen, was meine Freunde an jenem Tag so geplant hatten. Eigentlich hätte ich ja wissen müssen, dass das ein bisschen so ist, wie wenn ein ehemaliger Alkoholiker verkündet, er wolle „der alten Zeiten Willen" nur kurz ein Schlückchen Rotwein genießen. Denn beim Anblick all der lustigen Partyfotos auf meiner Timeline brach zugleich ein innerer Konflikt in mir aus: Ich hatte das Gefühl, als würden wie in einem Cartoon Engel und Teufel auf meiner Schulter sitzen.

„Oh, sieh dir an, wie viel Spaß heute alle haben! Es ist die beste Party des Jahres. Und sowas lässt du dir entgehen?"
„Nein, sie machen sich etwas vor! Silvester ist ein Tag wie jeder andere!"
„Aber sie essen Fondue. Du liebst doch Käse!"
„Ich kann an jedem anderen Tag des Jahres Fondue essen, wenn ich will."
„Aber sie tragen Partyhüte! All deine Freunde stoßen gemeinsam auf ein gelungenes Jahr an, nur du bist nicht dabei! Du bist so langweilig. Bestimmt fällt ihnen gar nicht auf, dass du nicht da bist. Sie glauben, die Stehlampe im Eck bist du."

Urplötzlich spürte ich das Verlangen, mir einen Partyhut, sowie eine bescheuerte Brille in 2013-Form zu kaufen, „Happy New Year" anzusehen, und immer dann feierlich in meine Tröte zu pusten, wenn sich im Film jemand küsst. Stattdessen klappte ich mein Notebook zu und beschloss, auf die Straßen von Paris zu flüchten, bevor mich der Silvester-Hype weiter einsaugen konnte. Und es funktionierte tatsächlich: Vielleicht war ich im falschen Teil der Stadt, aber Silvester auf den Straßen von Paris zu verbringen ist ein bisschen so, als würde mir ein Partner im Bett die „totale Kontrolle" überlassen - nichts passiert und ich lege mich schlafen! Niemand startete einen Countdown und auch nach Feuerwerken hielt man vergeblich Ausschau - hätte ich nicht SMSen aus der Heimat erhalten, wäre mir auch kaum aufgefallen, dass wir soeben einen Jahreswechsel hinter uns gebracht hatten. Ha. Vielleicht war Silvester doch nur ein Tag wie jeder andere. Erheitert von dieser Erkenntnis zog ich noch ein bisschen um die Häuserblocks und legte mich dann zufrieden ins Bett.

Möge 2013 ein progressives Jahr werden, in dem ich kein einziges Mal in meinen Mantelärmel kotze!

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