Neuanfänge

Zum einjährigen Kolumnen-Jubiläum berichtet Michael abschließend von seiner England-Reise, absurden chinesischen Bräuchen und einer ungewöhnlichen Freundschaft in frühester Kindheit.

Alle heiligen Zeiten schreibe ich gerne mal Artikel für diverse Magazine und nehme daher auch an Redaktions-Sitzungen teil. Auf diesen Treffen bekomme ich zwar meist nur einen kurzen Auftrag, den man mir genau so gut per SMS hätte schicken können, bin aber dennoch gerne dabei, weil ich es liebe, die Ideen meiner Kollegen zu hören und jedes Mal erneut hoffe, dass es Brötchen gibt (gibt es nicht; Magazin-Menschen essen nicht). Es war gerade während der Redaktions-Sitzung eines Lifestyle-orientierten Magazins, als die Reise-Redakteurin einen Vorschlag brachte: „Ich möchte gerne etwas über London schreiben!“. Binnen Sekunden war ich trotz Eisenmangels (ich hatte immerhin mit Brötchen gerechnet) wieder hellwach: Juhu! London! Ich würde kommende Woche diese Stadt bereisen und überlegte kurz, meinen bereits ausgedruckten Boarding-Pass aus der Tasche zu holen und in der Runde herumzureichen, während ich feierlich „Rule Britannia“ anstimmte, um allen Anwesenden zu zeigen, dass auch ich endlich cool war. Doch plötzlich sah ich, dass die junge Frau von allen übrigen Personen im Raum vorwurfsvoll gemustert wurde. „London? Wirklich?“, sagte unser Vorgesetzter, der mich nun mehr als je zuvor an Meryl Streep in „Der Teufel trägt Prada“ erinnerte. „Niemand fliegt mehr nach London und jeder war schon dort. Mach lieber Kopenhagen.“. Eingeschüchtert ließ ich meinen Boarding-Pass wieder in die Tasche wandern.

Okay, vielleicht bin ich also noch immer nicht „cool“, aber wenigstens bin ich ein kleines Stückchen weiser: Denn als ich vor genau einem Jahr angefangen habe, diese Kolumne zu schreiben, habe ich den ersten Eintrag meinem Karneval-Hass gewidmet. Zwölf Monate später weiß ich aber, dass es am besten ist, in jener Woche, in der nicht nur Karneval, sondern auch Valentinstag gefeiert wird, einfach mit drei Freunden ins verregnete England zu flüchten. Natürlich könnte ich an dieser Stelle von typischen London-Erlebnissen berichten, aber da ja angeblich ohnehin schon jeder in London war, lasse ich das lieber bleiben und erzähle stattdessen von einem schönen Moment: Wer meine Kolumne treu verfolgt, weiß vielleicht, dass Silvester dieses Jahr relativ ruhig für mich verlaufen ist und ich daraufhin den gesamten Januar relativ deprimiert verbracht habe. Sobald ich hörte, dass am 10. Februar 2013 das chinesische Neujahr gefeiert wurde und im Zuge dessen eine große Fete in Londons China-Town stieg, packte ich die Gelegenheit, einen zweiten Jahreswechsel feiern zu dürfen und es diesmal richtig zu machen, sofort am Schopf.

Als wir an jenem verregneten Sonntag China-Town betraten, war es fast unmöglich, nicht auf die Salatblätter zu treten, die überall auf de nassen Straße verstreut lagen. Was war hier bloß passiert? Hatte sich eine Gruppe von Vegetariern aus Protest in die Luft gesprengt? Weit gefehlt, denn schon bald erspähte ich eine Menschenmasse, die aufgebracht einer überdimensionalen, chinesischen Schlange durch China-Town folgte, welche wiederum mit Salat-Köpfen, die an Angeln baumelten, von Restaurant zu Restaurant gelockt wurde (ähnlich, wie meine Freunde mich an Trink-Abenden aus Kneipen weglocken, indem sie mir sagen, dass in einer anderen Kneipe gerade Happy Hour ist). Diesen Salat zerfledderte die Schlange (bzw. der Mann unter dem Kostüm) schließlich unter Trommelwirbel, warf die Blätter in die jubelnde Menge und zog weiter zum nächsten Lokal, wo ein weiterer Salat auf sie wartete. Dieses Ritual soll Glück bringen und erheiterte mich immens (besser noch wäre es aber gewesen, wenn man mit Torte geworfen hätte. Nur ein kleiner Tipp für nächstes Jahr!). Hier war ich also, ein Jahr nach Kolumnen-Beginn und hatte die nervigen Karnevals-Bräuche meiner Heimat gegen die ulkigen Neujahrs-Traditionen einer chinesischen Schlange ausgetauscht. Ich lobe mich ja nur ungern selbst, aber wenn das nicht progressiv (!) ist, weiß ich auch nicht weiter.

Der ein oder andere Leser verdreht sicherlich schon längst die Augen und fragt sich, ob mein meschuggenes „Es ist nie zu spät für einen Neuanfang“-Gefasel wohl darauf zurückzuführen ist, dass ich letzte Nacht schon wieder zum „Eat, Pray, Love“-Hörbuch eingeschlafen bin. Keine Sorge, dem ist nicht so - das Hörbuch ist sehr spannend und wer dabei einschläft, hat keine Seele! Doch da diese Kolumne heute ihr einjähriges Jubiläum feiert, habe ich ein wenig schwermütig beschlossen, sie nicht mehr weiterzuführen. Aber warum? Ist das nicht ein bisschen so, als würde man sich einen Hundewelpen anschaffen, ihn großziehen, trainieren und dann schließlich an seinem ersten Geburtstag erschießen? Ja, genau so ist das, aber um ein bisschen weniger herzlos zu wirken und meiner oberflächlichen Internet-Persönlichkeit ein bisschen Tiefgang zu verleihen, möchte ich eine pseudo-rührende Geschichte aus meiner Kindheit erzählen (und nein, es ist nicht die Geschichte, in der ich mit meinem Dreirad die Kellerstiege runterfahre und mir den Kopf stoße, obwohl diese Begebenheit sicherlich auch so einiges erklärt).

Als ich fünf Jahre alt war, schenkten mir meine Eltern einen mit Helium gefüllten Luftballon, der einen Bären im Bräutigamkostüm darstellte. Aus unerfindlichen Gründen beschloss ich, dass der Ballon im Badezimmer wohnen sollte. Rückblickend betrachtet würden wohl alle Mitglieder meiner Familie behaupten, dass die Beziehung, die ich in den folgenden Tagen zu dem Bräutigam-Bären aufbaute, „ungesund“ und „schädigend für mein zukünftiges Liebesleben“ war, da er schon bald zu meinem besten Freund avancierte; es war ein bisschen wie „Harold & Maude“, nur viel armseliger. Nach einiger Zeit kam es aber, wie es kommen musste: Ich merkte, dass dem Ballon nach und nach die Luft entwich und der einst so pralle Bräutigam allmählich wie ein trauriger Gast einer Bären-Beerdigung aussah. Schwermütig traf ich eine Entscheidung, die rückblickend betrachtet relativ weise für einen Fünfjährigen wirkt: Anstatt dabei zuzusehen, wie mein Ballon verrottete, wartete ich auf den nächsten windigen Tag und ließ ihn im Garten in die Lüfte steigen.

Aus ähnlichen Gründen habe ich beschlossen, besser bei diesem Meilenstein mit meiner Kolumne aufzuhören, als dann, wenn auch mir bereits die Luft ausgegangen ist und ich Texte zu Themen wie „Mann, oh Mann, das Wort ,Wölbung‘ ist schon ziemlich komisch, oder?“ verfasse. Ich bin jedoch kein Fan von großen Abschieden und bevorzuge es daher lieber, auf Partys polnische Abgänge hinzulegen: Oft gehe ich einfach ohne etwas zu sagen nach Hause und muss im Nachhinein feststellen, dass ohnehin niemandem meine Abwesenheit aufgefallen ist, weil die meisten Gäste dachten, die buschige Topfpflanze in der Ecke des Raumes wäre ich. Doch nicht heute! An dieser Stelle geht ein riesiges Dankeschön an das VANGARDIST-Team, das mir im vergangenen Jahr nicht nur eine tolle Plattform, sondern auch jede Menge Unterstützung geschenkt hat, sowie an alle Leser, die tatsächlich Interesse an meinen wirren Wortergüssen gezeigt haben. Es war mir wahrlich ein Fest mit euch und im Stil eines echten Festes werde ich nun nach Hause verschwinden, es mir auf dem Sofa gemütlich machen und die angegammelte Pizza des Vorabends verspeisen.

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