Magerwahn

Auf Anschuldigungen, sie sei fett geworden, reagiert Lady Gaga auf eine ungewöhnliche, aber eigentliche geniale Weise und bewegt einen gewissen unzurechnungsfähigen Kolumnisten dazu, in Erinnerungen an seine eigenen „fetten“ Tage zu schwelgen.

Vor einigen Tagen habe ich mich mit meiner Freundin Anita zum Essen getroffen. Nachdem wir über essentielle Themen wie Leben, Liebe und langweilige Lehrveranstaltungen sinniert hatten, beschloss ich - da mein Gegenüber großer Gaga-Fan ist -, ein etwas trivialeres Thema anzuschneiden. „Hast du schon die Neuigkeiten über Lady Gaga gehört?“, fragte ich vorsichtig. „Was, dass sie zugenommen hat?“, entgegnete Anita wie aus der Pistole geschossen. Das war mir klar. In den vergangenen Tagen war es schier unmöglich, dieser „Neuigkeit“ zu entkommen: Ein weiblicher Popstar hatte ein paar Kilo zugenommen und plötzlich war es Breaking News - die Berichte darüber waren um die Welt gegangen und sogar meine Großmutter (die denkt, Facebook wäre ein echtes Buch) hatte in der Illustrierten vermutlich Bilder von Gagas rundlichem - aber bei weitem nicht „fetten“ - Hinterteil gesehen, wahrscheinlich auch noch mit der Bildunterschrift „Hat Lady Gaga etwa ihr Fleischkostüm gegrillt und gegessen?“. Dass einige Wochen zuvor darüber berichtet wurde, dass Laufstegmodels „zu dünn“ waren, scheint mir in diesem Fall irrsinnig heuchlerisch. Doch auf die Anschuldigungen der Medien, sie sei „fett“ geworden, konterte die Sängerin nicht etwa mit einer Abmagerungskur, sondern indem sie unbearbeitete Bilder von sich selbst in Unterwäsche online stellte, die all ihre „Mängel“ zeigen. Im Zuge dessen ruft die Pop-Ikone zur „Body Revolution 2013“ auf und appelliert an ihre Fans, das Schönheitsideal der Medien zu ignorieren und ihre Körper stattdessen so zu akzeptieren, wie sie sind.

Was viele Leute nicht von mir wissen (vermutlich deswegen, weil ich alle Fotos aus dieser Zeit in einem großen Feuer vernichtet habe), ist, dass ich noch vor einigen Jahren auch „fett“ war - nicht Zirkus-fett, aber dick genug, um jeden Hosenkauf in ein dreitägiges, tränenreiches Event zu verwandeln. Aus eben diesem Grund wurde ich in der Schule oftmals gehänselt - doch nicht etwa von fiesen Kerlen, sondern von Christian, einem meiner besten Freunde. Christian war einer dieser Typen, die die fiesesten Dinge sagen und schließlich ein „Hahaha, ich scherze doch nur, wir sind Freunde!“ nachwerfen, um ihre verbale Bombe zu entschärfen. „Hey Fetti!“, würde er mich meistens begrüßen. Andere Male würden seine Witze gewiefter ausfallen. „Michael geht in ein Restaurant, macht die Speisekarte auf und sagt ,Ja okay, das nehme ich so!‘“, war einer meiner Favoriten, densogar ich ein bisschen witzig fand. Das Grundmotiv der Beleidigungen war aber immer das gleiche: Ich war fett und alle lachten darüber. Was mir in diesen Jahren nicht nur in der Schule, sondern auch von den Medien vermittelt wurde, war, dass pummelig sein einfach keine Option war und ich schnellsten abnehmen sollte, wenn ich je akzeptiert werden wollte. Der Schulschluss stand bevor und während sich meine Mitschüler wohl Freizeit- Aktivitäten wie Volleyball spielen und Muscheln sammeln widmeten (oder was auch immer normale Kinder im Urlaub so machen), stand ein völlig anderes Projekt auf meiner Agenda. Ein Projekt, das ich heute liebevoll „The Hunger Games“ nenne.

Mehr als zwei Monate später kehrte ich am ersten Tag des neuen Schuljahres triumphal zurück in unseren Klassenraum. Ich möchte bitte, dass ihr euch dieses Szenario wie den einschneidenden Moment eines jeden Anne Hathaway-Films vorstellt, in dem die einst „hässliche“ Anne allen Leuten beweist, dass sie doch ziemlich scharf sein kann, wenn sie es nur will. Denn ich - der pummelige Michael Buchinger - war nun endlich dünn! Der Großteil meiner Mitschüler überhäufte mich mit Komplimenten, während andere fortan interessiert fragten, was mein „Geheimnis“ war - wie gelang es mir bloß, auch in den kommenden Monaten immer mehr an Gewicht zu verlieren? „Eine ausgewogene Ernährung und regelmäßiger Sport sind wichtig!“, wurde zu meiner zuckersüßen Standardantwort. „...außerdem hasse ich meinen Körper, esse nur an ausgewählten Tagen und bediene mich ,kreativer‘ Methoden, um meinen Magen von seinem Inhalt zu befreien“, dachte ich mir, beschloss aber, dieses klitzekleine Detail zu verschweigen.

Vielmehr als einen flachen Bauch, schlanke Beine und die Fähigkeit, den Kaloriengehalt eines jeden Supermarktproduktes binnen Sekunden gedanklich abzurufen, hatte ich nun also auch eine Essstörung dazu gewonnen, die ich so schnell nicht mehr loswerden sollte. Den Großteil meiner Tage verbrachte ich fortan damit, mir kreative Wege einfallen zu lassen, mich aus Familienessen herauszuschummeln und mir nachts unter der Bettdecke Kochbücher anzusehen (und ja, es kann gut sein, dass die ein oder anderen Seiten aneinanderklebten). Die meisten meiner Mitmenschen erkannten zum Glück, dass ich Hilfe brauchte, doch besessen wie ich war, weigerte ich mich, mir dies selbst einzugestehen. Besonders in Erinnerung bleibt mir der Tag, an dem man mir eine ärztliche Untersuchung verordnete und nach etlichen Untersuchungen beschlossen wurde, dass dieser Gewichtsverlust „vollkommen normal“ war. Bitch, please! Im Wartezimmer hatte ich eine Frau getroffen, die wild aus ihrer Hand blutete und sich dennoch die Zeit genommenhatte, mir zu sagen, dass ich „nicht gesund“ aussah. Rückblickend betrachtet wünschte ich, ich hätte zu dieser Zeit Vorbilder wie Lady Gaga gehabt.

Zu einem persönlichen Wendepunkt kam es schließlich für mich, als ich mit einer Gruppe von Freunden (darunter auch Christian) einkaufen war. Gerade, als ich einen Laden durch seine automatische Schiebetür betreten wollte, öffnete sich diese nicht und ich knallte gegen die Glasscheibe, was - zugegeben - ziemlich lustig ausgesehen haben muss. Christian nächster Witz ließ nicht lange auf sich warten: „Michael ist so dünn, dass der Bewegungsmelder ihn nicht mehr wahrnimmt!“ verkündete er und wurde mit einem großen Lacher der gesamten Gruppe belohnt. Das war - um Oprah zu zitieren - mein „Aha- Moment“, in dem mir einiges klar wurde. Egal, ob man nun dick oder dünn ist: Gewisse Leute werden immer etwas an einem auszusetzen haben. Entscheidend ist, wie man mit dieser Kritik umgeht. Man kann sich ihr beugen und sich einreden lassen, dass man wirklich ein fettes Monster ist oder aber genug Stärke zeigen, um sich von diesen Beleidigungen (selbst, wenn sie von „Freunden“ kommen) nicht weiter beeinflussen zu lassen. Was ich brauchte war nicht Disziplin, um auf mein Abendessen zu verzichten, sondern Disziplin, um mich von dummen Witzen und den Idealen anderer nicht derartig in die Ecke drängen zu lassen.
 

1 Kommentar:

  1. "[...] aber dick genug, um jeden Hosenkauf in ein dreitägiges, tränenreiches Event zu verwandeln."
    Ich versuche mein Leben lang schon, für diese Situation die passenden Worte zu finden. Ich danke!

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