Gutes Benehmen

In einer Welt, in der wir ständig mit unseren Mobiltelefonen beschäftigt sind und Popstars, die ihre besten Jahre bereits hinter sich haben, öffentlich ihre Nippel entblössen, scheint gutes Benehmen der Vergangenheit anzugehören. Mich stört das!
 
Im Alter von 15 Jahren entwickelte ich eine nahezu krankhafte Besessenheit mit Benimmbüchern - während sich andere Kinder an Samstagabenden vermutlich einen hinter die Binde kippten, verbrachte ich meine Nächte mit Knigge & Co. Mein absolutes Lieblingsbuch dieser Sorte ist und bleibt der nahezu 800 Seiten umfassende Wälzer "Emily Post's Etiquette", der mir - einem Teenager, wie er mehr "socially awkward" nicht hätte sein können (einmal habe ich im Supermarkt mehr Zeit als notwendig in der Katzenfutterabteilung verbracht, weil ich einem Lehrer ausweichen wollte - dabei habe ich gar keine Katze!) - für so gut wie alle Zwickmühlen des Alltags mit Antworten diente. Von hilfreichen Klassikern wie "Wie viel Trinkgeld gebe ich...?" bis hin zu kniffligeren Angelegenheiten wie "Was tun, wenn ich mich in einem Restaurant spontan übergeben muss?" - es hatte etwas Beruhigendes zu wissen, dass in jenen Büchern Lösungen für so gut wie alle Probleme des Alltags zu finden waren.
 
5 Jahre sind seitdem vergangen und wer mich kennt, weiß, dass ich den Ratschlag dieser Benimmbibeln definitiv nicht mehr auf Punkt und Beistrich befolge: Eine Autofahrt mit mir beweist zum Beispiel, dass die Hupe nicht nur ein nützliches Warnsignal ist, sondern durchaus auch dazu verwendet werden kann, andere Autofahrer darauf hinzuweisen, dass sie Vollidioten sind, weil sie scheinbar nach dem Motto "Ich könnte zwar 50 fahren, aber bei 30 habe ich mehr von der schönen Aussicht!" leben (manchmal strecke ich dabei auch meine Faust drohend beim Fenster heraus, um meinen Standpunkt zu verdeutlichen). Dennoch lege ich großen Wert auf die Grundkenntnisse guten Benehmens und würde sogar behaupten, nichts mache mir einen Menschen sympathischer, als Höflichkeit und Respekt im Umgang mit anderen. Es ist mir zum Beispiel relativ egal, ob sich mein Date sehr gut mit der Weinkarte auskennt, wenn er es nicht mal schafft, sich bei dem Kellner zu bedanken, der uns den edlen Tropfen serviert.
 
Eine meiner größten Befürchtungen ist es daher, dass moderne Mittel wie Facebook, SMS und Emails unsere sozialen Kompetenzen und gutes Benehmen beeinträchtigen - man muss ja nur einen Blick in die Kommentare diverser YouTube-Videos werfen, um dutzende neue Schimpfwörter zu lernen. Es gibt wohl kaum einen Menschen, der Konfrontationenso sehr hasst wie ich - aus diesem Grund kommuniziere ich gerne über Facebook, wenn brenzlige Situationen am Horizont lauern. Unlängst erst vermutete ich, eine gute Freundin könne böse auf mich sein und erwischte mich schließlich dabei, als ich mir sagte "Michael, du solltest bei ihrem neuen Status auf 'Gefällt Mir' drücken, damit sie weiß, dass du sie noch magst!". Für einen Moment ließ ich mir auf der Zunge zergehen, wie blöd meine Denkweise sich eigentlich anhörte, vereinbarte ein Treffen mit meiner Freundin und klärte den kleinen Zwist zwischen uns auf traditionelle Weise.
 
Vor ein paar Monaten befand ich mich auf einem Date mit einem jungen Mann. Ich habe nichtmal Scham zuzugeben, dass es sich um ein Blind Date handelte, da sich eine gute Freundin liebevollerweise dachte "Mensch, der Michael könnte ruhig mal wieder seinen 'Mord ist ihr Hobby'-Marathon unterbrechen und das Haus verlassen!" und mich mit Thomas, einem ihrer besten Freunde, verkuppeln wollte. So fanden wir uns am frühen Abend in einer Bar ein, um ein bisschen miteinander zu plaudern, doch ich hatte ja nicht ahnen können, dass Thomas andere Pläne hatte. Ich war gerade dabei zu erzählen, dass meine Nachbarn immer laut Sex hatten und ich nicht wusste, ob und wie ich sie auf diese Lärmbelästigung ansprechen sollte, als Thomas' Handy bereits zum dritten Mal die Ankunft einer neuen SMS verkündete, woraufhin er mich mit erhobenem Zeigefinger darauf hinwies, kurz ruhig zu sein, da er sie sofort beantworten musste. "Kein Problem!", dachte ich mir. "Vielleicht liegt seine Oma im Sterben und sie schreibt ihm Abschieds- SMS!" (ja, manchmal kann auch ich nicht fassen, wie naiv ich bin.) Weil ich denke, dass alte Frauen relativ schnell sterben und ich mit meiner irrsinnig spannenden Sex- Geschichte endlich zum Höhepunkt (ich gebe mir an dieser Stelle selbst ein High-Five für mein kleines Wortspiel) kommen wollte, hakte ich nach: "Wer schreibt dir denn?".
 
„Ach, ich schreibe gerade mit einem Freund von mir! Er ist SO WITZIG! Er hat seit ein paar Tagen Streit mit seinen beiden Mitbewohnerinnen. Das sind aber eh zwei ganz Nette; die eine von ihnen spielt gerne WoW...". Schon war meine Nachbarschafts-Sex- Geschichte (deren Pointe es übrigens war, dass ich ihnen einen Dreier anbieten wollte) in den Hintergrund gedrängt und Benjamin, der ach-so-witzige Kumpel meines Dates, zum neuen Mittelpunkt des Abend ernannt worden. Thomas zeigte mir Bilder von ihm und gemeinsam ließen wir uns kreative Antworten auf seine ständig kommenden SMS- Nachrichten einfallen, während ich insgeheim wünschte, ich könne zuhause vor dem Fernseher sitzen und Jessica Fletcher dabei helfen, einen weiteren kniffligen Fall zu lösen. Weil Wien vermutlich die kleinste Stadt auf Erden ist, dauerte es nicht lange, bis ich ebenjenem Benjamin ein paar Wochen auf einer Party über den Weg lief. Selbstsicher klopfte ich ihm auf die Schulter. „Du bist Benjamin, oder?" Er nickte. „Wie geht es dir mit deinen Mitbewohnerinnen? Spielt die eine noch immer so gerne WoW?". Mein Gegenüber sah mich verwirrt an. „Es tut mir leid, ich weiß im Moment nicht, wer du bist. Waren wir mal gemeinsam aus?". Ja, könnte man so sagen...
 
Manieren sind nach vor sehr wichtig, aber heutzutage leider nicht mehr selbstverständlich. Welche schlechten Umgangsformen nerven euch an euren Mitmenschen am meisten, liebe Leser?

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