Bösewichte

In der Grundschule wagte ich einst eine kontroverse Aussage, nach welcher ich in Betracht zog, mich in den Untergrund zurückzuziehen. Eine Geschichte über Bösewichte, Ballspiele und Lady Gaga.
 
Schon im Grundschulalter war ich nie wie die anderen Kinder. Während meine Altersgenossen großen Spaß daran empfanden, sich mit Ballspielen im Garten die Zeit zu vertreiben, beobachtete ich sie stattdessen lieber mit zwei meiner besten Freunde (die eher unbeliebt waren, weil sie Zahnspangen trugen) stillheimlich von einem schattigen Plätzchen, da ich bis zum heutigen Tag felsenfest davon überzeugt bin, dass jemand, der seinen Mitmenschen mit einem harten Ball ins Gesicht schießt und diese diabolische Aktivität als „Spiel" tarnt, nur ein Kind des Teufels sein kann. Großen Spaß wiederum empfand ich an den Pausen-Gesprächen mit meinen Altersgenossen: Regelmäßig tauschten wir uns über Filme, Fernsehserien und ähnlich heitere Themen aus. Bis zu jenem verheerenden Tag, ab welchem ich aufgrund einer törichten Aussage fortan für immer als absoluter Außenseiter aller Klassen-Cliquen gelten sollte (wirklich, nichtmal die Zahnspangen-Kinder wollten mehr mit mir sprechen!).
 
Wir saßen gerade wiedermal in der großen Pause zusammen, als über das Abendprogramm eines beliebten Kindersenders diskutiert wurde, welches an jenem Tag aus der TV-Premiere der Realfilm-Version von „101 Dalmatiner" bestand. „Wisst ihr," fing ich grundlos zu schwafeln an „eigentlich möchte ich, dass Cruella de Vil ihren Dalmatinerfell-Mantel bekommt. Ich verstehe nicht, warum immer alle zu den Guten halten - Bösewichte sind viel toller! Ich möchte nicht nur, dass Cruella ihren Mantel bekommt. Oh nein! Wenn es nach mir ginge, sollte sie auch gleich das Gesundheitsamt auf dieses schreckliche Ehepaar hetzen, das es für eine gute Idee hält, 101 Dalmatiner in ihrer schäbigen Wohnung zu halten!" Ich erwartete mir nicht nur Zustimmung, sondern hoffte insgeheim sogar, dass meine Klassenkameraden mich im Stil einer jüdischen Hochzeit auf einem Stuhl durch die gesamte Schule tragen und „MI-CHA-EL! MI-CHA-EL!" jubeln würden, weil endlich mal jemand die Wahrheit gesagt hatte. Stattdessen wurde ich mit Blicken der Verachtung bestraft. „Michael, du bist so gemein!", sagte ein Kind, den Tränen nahe, während andere vorschlugen, ich solle mich mit meinen merkwürdigen Ansichten doch bitte woanders hinsetzen. Mit einem Schlag war ich selbst zum Bösewicht der Klasse geworden.
 
Fest davon überzeugt, dass ich, weil ich Antagonisten in Kinderfilmen toll fand, nun ein schlechter Mensch war und nicht jene Kinder, die Ball-Gewalt toll fanden, bat ich meine Mutter um Rat. Sie konnte sich ein Lachen nicht verkneifen: „Michael, das ist ganz normal. Jede spannende Geschichte braucht einen Bösewicht und um ehrlich zu sein finde ich sie selbst immer viel besser, als die guten Charaktere!". Obwohl diese Worte sicherlich zur Beruhigung gedacht waren, hatten sie genau den gegenteiligen Effekt: Weil meine Mutter ebenfalls mit Bösewichten sympathisierte, war ich nun felsenfest davon überzeugt, dass alle Mitglieder der Buchinger-Familie von Grund auf böse waren (zudem sah ich den Vorfall von Wochen zuvor, als meine Mutter beinahe „unabsichtlich" eine Katze überfahren hätte mit ganz anderen Augen. Am Ende wollte sie einen Mantel aus Katzenfell!). Fortan lebte ich mit dem Hintergedanken, dass ich wohl oder übel dazu prädestiniert war, meine Zukunft maskiert und Orgel-spielend in einer Höhle unter der Grundschule zu verbringen oder mich andernfalls vom Dorfpfarrer exorzieren lassen musste (ich entschied mich für die Untergrund-Variante, weil ich Tageslicht ohnehin scheue).
 
Jahre später - gerade, als ich mich eigentlich mit schallendem Gelächter in die Unterwelt zurückziehen wollte - machte ich jedoch eine faszinierende Entdeckung, die mein Gewissen beruhigen sollte: So gut wie alle meine späteren Jugendfreunde, insbesondere aber die Schwulen, hegten eine ähnliche Faszination zu Bösewichten wie ich und veranstalteten sogar Partys, wo sie sich als jene verkleideten und über die Maße betranken (meine Sorte Leute). Zwar erleichterte es mich immens, dass ich mich in Zukunft wohl doch nicht von dem Blut Neugeborener ernähren würde, (oder was auch immer böse Menschen zu sich nehmen), sondern stattdessen als Cruella verkleidet mit Captain Hook und der bösen Hexe des Westens das Nachtleben unsicher machten durfte, doch stellte sich mir dennoch eine große Frage: Mal angenommen, dass wir alle mehr oder weniger gute Menschen sind - warum finden wir es dann so toll, wenn eine übergewichtige Tintenfisch-Hexe einer rothaarigen Meerjungfrau die Stimme stehlen will? Warum mögen wir Bösewichte oft mehr als die eigentlichen Protagonisten?
 
Dieses Rätsel sollte sich, wie so viele Rätsel des Alltags, klären, als ich mir vor kurzer Zeit im Internet ein Lady Gaga-Interview ansah. Von einer Reporterin gefragt, woher die Inspiration für ihre charismatische Bühnenfigur komme, antwortete die Popsängerin, dass sie sich eben oftmals ein Beispiel an Bösewichten aus Filmen und Serien nehme, da deren selbstbewusstes Auftreten und oft rücksichtsloses Verhalten genau das sei, was sie selbst bei ihren Performances anstrebe und durch ihre Kleidung auszudrücken versuche (einmal hat sie sich sogar als Cruella de Vil verkleidet. Es hagelt Sympathie-Punkte!). Aha, wieder was dazugelernt! Dass ich Bösewichte so toll finde hat also weniger damit zu tun, dass ich die Menschen in meiner Umwelt töten möchte, sondern ist vielleicht darauf zurückzuführen, dass ich Gefallen am selbstbewussten Auftreten von Antagonisten finde und mir daran ein Beispiel nehme, was ja gar nicht so schlecht ist (mal ganz zu schweigen davon, dass sie meistens die besseren Witze haben und von epischer Hintergrundmusik begleitet werden). Das beruhigt mich!
 
Nun, da ich ruhigen Gewissens zu meiner geheimen Vorliebe stehen kann, würde mich interessieren, welche eure Lieblings-Bösewichte sind, liebe Leser. Lasst mal hören!

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